Avifaunistische Kommission
der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft
(NWO)



Vogel des Monats
Oktober 2007
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Er kommt aus dem Osten: Der Rennvogel. Oder aus dem Süden?


Von Eckhard Möller


Es mag sich so abgespielt haben:
Tauig und kühl war der Morgen des 17. September 1868. Die Hunde bellten und jaulten ununterbrochen. Die Jäger – es waren natürlich nur Männer mit mehr oder weniger imposanten Bärten – fröstelten leicht und hatten die Hände noch in den Taschen ihrer dicken Jacken oder wärmten sie an ihren rauchenden Pfeifen. Als ein Jagdhorn zur Attacke blies, setzte sich die Kette der bewaffneten Herren langsam in Bewegung. Sie hatten sich die ausgedehnten Ackerfluren vor den Toren des alten Städtchens Lemgo im Fürstentum Lippe vorgenommen. Bald knallten die ersten Schüsse in die abgehenden Ketten der Rebhühner einfach hinein. Die Hühner purzelten tot oder nur verletzt zu Boden, die Hunde besorgten den Rest. Feldhasen schlugen einen Salto, wenn die Schrote sie im Lauf trafen. Ein junger Merlin, der gerade aus Skandinavien eingetroffen war und auf einer Erdscholle ausgeruht hatte, überlebte nicht lange; ebenso erging es einer Sumpfohreule, die aus einem zugewachsenen Graben aufstieg, und dreien der sieben Goldregenpfeifer, die auf einem nackten Ackerschlag rasteten – die anderen kamen davon.

Plötzlich startete aus ganz schütterer Vegetation ein heller, sandfarbener Vogel mit leichtem Flug, kleiner als die Goldregenpfeifer, auch viel zu bleich. Zwei Schüsse knallten fast gleichzeitig. Da lag er mit Blut auf dem Gefieder…

Der Auditeur Pothmann aus Detmold war der Schütze (Auditeure waren Rechtsgelehrte bei Militärgerichten). Keiner der Jäger konnte mit dem toten Vogel etwas anfangen. Erst zu Hause mit Hilfe eines Naturkundelehrers und schwarzweißer Abbildungen in einem illustrierten Tierbuch konnten sie ihn identifizieren: Es war ein Rennvogel (Cursorius cursor). Er sollte in Wüstengebieten Vorderasiens und Nordafrikas leben, stand dort zu lesen. Das war ein klarer Fall für das Lippische Landesmuseum in Detmold. Dort wurde der offenbar seltene Gast ausgestopft und der Naturkundesammlung einverleibt, in der er auch jetzt noch zu finden ist.

Rennvogel Detmold Foto 1

Der Rennvogel von Lemgo vom September 1868, der schon bei v. Droste (1873), Landois (1886), Landwehr (1907) und Wolff (1925) erwähnt wird, sollte bis heute der einzige Nachweis dieser Art in Nordrhein-Westfalen bleiben. In den „Vögeln des Rheinlands“ (Mildenberger 1982) sind zwar zwei Rennvogel-Daten angegeben, aber das eine davon (1833) bezieht sich auf den Ort Kaub am Rhein, der nicht in Nordrhein-Westfalen, sondern in Rheinland-Pfalz liegt. Auch im „Handbuch der Vögel Mitteleuropas Band 7“ (Glutz v. Blotzheim et al. 1985) und im „Kompendium der Vögel Mitteleuropas“ (Bauer et al. 2005) wird diese Angabe zitiert. Das andere ist eine angebliche Beobachtung vom 12.9.1969 in de Hamert (Provinz Limburg) in den Niederlanden (!), wo gleich 10 Individuen gesehen worden sein sollten. Davon ist aber in dem zusammenfassenden Buch von Arnoud van den Berg & Cecilia Bosman (1999) über die „Rare birds of the Netherlands“ nichts zu finden. Deshalb kann man wohl davon ausgehen, dass die zuständige niederländische Seltenheitenkommission diese Beobachtung nicht akzeptiert hat.


In der westlichen Paläarktis kommen Rennvögel in den Wüstengebieten und Halbwüsten von den Kapverden bis nach Afghanistan und Turkmenien vor (Cramp 1983).

Rennvogel Foto 2

Rennvogel Foto 3

Rennvogel Foto 4

Rennvogel Foto 5

Im „Kompendium“ (Bauer et al. 2005) sind Nachweise aus Westeuropa aufgelistet:
In der Schweiz bisher 6 – alle getötet.
In Belgien nur einer im August 1881.
In den Niederlanden nur 2, nämlich im Oktober 1933 und im selben Monat 1986 (Fotos dieses Vogels bei van den Berg & Bosman 1999).
In der Tschechei bisher 3, der letzte 1929.
In Großbritannien wurden nach 1950 bisher 7 Rennvogel-Nachweise vom British Birds Rarities Committee anerkannt, und zwar je einer in 1959, 1965, 1968, 1969, 1980, 1984 und – nach für die britischen Twitcher und Lister quälend langer Pause – erst wieder 2004 (www.bbrc.org.uk).

Am 28. September 2004 fuhren Ashley Fisher und Bob Flood mit einem Boot rüber nach St. Agnes, eine der Inseln der Scilly-Gruppe vor der Küste von Cornwall. Als sie nach einem von dort gemeldeten Rosenstar suchten, bemerkte AF mit dem bloßen Auge einen Brachschwalben-ähnlichen Vogel am Himmel. Es sah so aus, als sei er gerade von See reingekommen. Ein paar Stare machten ihn an. Ashley schrie sofort: „Bob…Brachschwalbe!“ – nur um Sekunden später zu korrigieren: „Es ist ein Rennvogel!“!!! Sandfarbene Oberseite, schwarze Unterflügel, gebogener Schnabel, die Füße ragten über den Schwanz hinaus. Sie konnten es kaum glauben – unfassbar! Aber er flog weg – sie mussten reagieren: AF folgte dem Vogel mit dem Fernglas, während Bob auf den nächsten Hügel rannte, um Handy-Empfang zu bekommen und andere Birder zu alarmieren. Doug Page, der gerade im Postbüro war, warf sein Handy in die Ecke und rannte los. Über das britische Pager-System wurde die Nachricht sofort im ganzen Land blitzschnell verbreitet: Der erste Rennvogel nach fast bis auf den Tag genau 20 Jahren! Er war DER Vogel des Herbstes für viele der wohl 2000 Beobachter, die ihn bestaunt haben. Er blieb dann auf den Inseln bis Ende Oktober, bis er an Erschöpfung/Nahrungsmangel starb, obwohl er noch in Pflege genommen wurde.


In Spanien haben Rennvögel in den letzten Jahren sogar gebrütet: 2001 und 2003 wurde je eine Brut in Andalusien nachgewiesen. Aus 2005 gibt es Beobachtungen von mindestens 2 Individuen aus dem Raum Almeria, aber keine direkten Bruthinweise (www.rarebirdspain.net). Diese Funde haben zu heftigen Diskussionen geführt, ob man sie als Anzeichen der Ausbreitung von Wüsten nach Südeuropa hinein werten könne – beim Erleben der Landschaft um Almeria mit den Wüstengimpeln kein Wunder.

Aus Deutschland gibt es aus dem 19. Jahrhundert eine ganze Reihe belegter Nachweise, dagegen von 1900 bis 1949 nur wenige (P.H. Barthel/DSK briefl.). Im „Kompendium“ (Bauer et al. 2005) sind Angaben aus Deutschland aufgelistet, gegliedert nach den einzelnen Bundesländern. „In der Kategorie A (= nach 1950) der deutschen Artenliste steht die Art auf Grund eines einzigen Nachweises aus dem Jahr 1966 (Oktober, Scharhörn HH). Nur dieser wurde von der DSK anerkannt“ (P.H. Barthel/DSK brfl.).

Erstaunlicherweise ist im Gegensatz zu dieser offiziellen Aussage bei Hellberg & Schmidt (2005) die Beobachtung eines Rennvogels aufgeführt, der sich im Landkreis Soltau-Fallingbostel auf dem Truppenübungsplatz Bergen vom 25. Mai bis zum Juli 2003 aufgehalten hat und von mehreren Leuten gesehen wurde. Es soll sogar Videos und Fotobelege von diesem außergewöhnlichen Gast geben, der in der Zeit für erhebliche Aufregung in der deutschen Birder-Szene sorgte. Er hielt sich aber auf einer großräumig abgesperrten Schießbahn auf, so dass es praktisch keine Beobachtungsmöglichkeiten gab. Hellberg & Schmidt weisen allerdings darauf hin, dass diese Beobachtung noch an die Deutsche Seltenheitenkommission gemeldet werden müsse. Das ist offensichtlich bis heute nicht geschehen.


So ganz ausgeschlossen ist es sicher nicht, dass die mit Macht anrollende Klimaerwärmung auch in Zukunft erneut einen Rennvogel verführt, nach Nordrhein-Westfalen zu fliegen. Wo er dann zu finden sein wird? Im Rheinland sollten die Beobachter vielleicht in der Pußta der Zülpicher Börde suchen. In Westfalen ist die Raststation der Mornellregenpfeifer, die endlose Ackersteppe am Hellweg, sicher die erste Adresse. So ein kleiner bleicher Renner in unserem Land – das wäre eine Nachricht, die die Vogel-Szene mächtig elektrisieren würde…


Danksagung

Ich möchte mich bei Peter H. Barthel, Axel Halley, Hans-Günter Höß und Dietrich Horstmann für die freundliche Unterstützung und bei Jan Ole Kriegs für perfektes Design bedanken.


Literatur

Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas – Nonpasseriformes-Nichtsingvögel. Wiebelsheim 2005.

Cramp, S. (Hg.) (1983): Handbook of the Birds of Europe, the Middle East and North Africa Vol. III Waders to Gulls. Oxford/London/New York.

Droste, F. v. (1873): Beiträge zur Vogelfauna von Westfalen und Lippe. Der Zoologische Garten 14, S. 144-151.

Fisher, A. & B. Flood (2004): The Cream-coloured Courser on the Isles of Scilly. Birding World 17, S. 426-428.

Goethe, F. (1948): Vogelwelt und Vogelleben im Teutoburgerwald-Gebiet. Detmold-Hiddesen.

Hellberg, T. & F.U. Schmidt (2005): Vogelkundliche Besonderheiten im Landkreis Soltau-Fallingbostel 2003/2004. Naturkundl. Beitr. Soltau-Fallingbostel 11/12, S. 105-167.

Landois, H. (1886): Westfalens Tierleben. Die Vögel in Wort und Bild. Paderborn/Münster.

Landwehr, F. (1907): Der Rennvogel (Cursorius gallicus), ein seltener Irrgast des Weserberglandes. Ravensberger Blätter 7, S. 14.

Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes Band 1. Düsseldorf.

Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Abh. Landesmus. Naturkunde Münster 31, Heft 3, S. 1-480.

van den Berg, A. & C.A.W.Bosman (1999): Rare birds of the Netherlands. Utrecht.

Wolff, G. (1925): Die lippische Vogelwelt. Schötmar.

www.bbrc.org.uk

www.rarebirdspain.net/arbs506.htm#Ccursor


Anschrift des Verfassers:
Eckhard Möller, Stiftskamp 57, 32049 Herford