Avifaunistische Kommission
der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft
(NWO)



Vogel des Monats
Juni 2009

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Der Schwarzstirnwürger von Godelheim

Von Jochen Müller und Eckhard Möller


Fast kaum zu glauben, dass es beinahe auf den Tag genau 21 Jahre her ist, dass der bisher letzte Schwarzstirnwürger (Lanius minor) in Nordrhein-Westfalen beobachtet worden ist! Am 15. Juni 1988 war JM gerade nach Hause gekommen, als eine Nachricht seines Bruders Matthias ihn sofort wieder ins Auto springen ließ. Beide sausten los. Hier JMs Bericht:

„Matthias hatte mittags in einem Wiesengebiet bei den Godelheimer Seen in der Nähe von Höxter einen Schwarzstirnwürger entdeckt! Später schilderte er die Beobachtung im Meldeformular für den Seltenheitsausschuss wie folgt:

‚Der Würger saß auf Zaunpfählen oder Stacheldraht, in kurzen oder längeren Abständen vollführte er Jagdflüge. Dabei stieß er entweder schräg zu Boden oder erbeutete Insekten in kurzem, anmutigem, flatterndem Flug, um zu seiner Warte zurückzukehren. Er war nicht sehr scheu, man konnte sich ihm auf ca. 40 Meter nähern, worauf er ca. 100 Meter zu einer neuen Warte flog, verlässt die nähere Umgebung nicht. Einige Minuten lang wurde er von einem Hausrotschwanz-Weibchen attackiert. Dieses stand einige Male kurz fliegend vor ihm in der Luft oder aber setzte sich direkt neben ihn auf den Stacheldraht. Der Würger zeigte sich vollkommen unbeeindruckt.’

Er hatte den Vogel um 13 Uhr gesehen, jetzt war es aber schon 19 Uhr, und es wäre für mich eine Katastrophe gewesen, wenn wir den Vogel nicht wiedergefunden hätten. Die Würger gehörten für mich neben den Racken schon immer zu den faszinierendsten Vögeln, und hier ging es um die eindeutig seltenste Art. Und dann noch direkt bei meinem Heimatdorf!

Es war ein warmer, gegen Abend sonniger Tag mit besten Beobachtungsbedingungen. Zum Glück hielt sich der Schwarzstirnwürger immer noch an der gleichen Stelle in einer nahe der Weser gelegenen Wiese auf und war sofort leicht zu bestimmen:

Er trug ein deutlich sichtbares, schwarzes Band über die Stirn hinweg, und im Flügel des sitzenden Vogels war nur ein weißes Feld zu erkennen. Auch war er kleiner und zeigte eine aufrechtere Körperhaltung als der uns aus zahlreichen Winterbeobachtungen gut bekannte Raubwürger. Ein rötlicher Anflug auf der Brust war allerdings nicht zu sehen.

Obwohl es mittlerweile über 20 Jahre her ist, kann ich mich natürlich noch sehr gut an die tolle Beobachtung erinnern und muss auch fast jedes Mal daran denken, wenn ich an dieser Stelle vorbeikomme. Der alte Stacheldraht steht heute noch da, der vorrückende Kiesabbau wird die Wiese aber demnächst ganz verschlungen haben. Ich weiß noch, wie ich damals bei der Beobachtung dachte, ob dies vielleicht der letzte Schwarzstirnwürger sein wird, der in Westfalen beobachtet wurde, da die Art ja bekanntlich sehr stark zurückging und sich die Vorkommen immer weiter von unserem Beobachtungsgebiet entfernten.

Fotos eines Schwarzstirnwürgers

Ich schrieb damals in meinem Bericht.  ‚Wir vermuten einen Vorstoß nach Norden aufgrund des ungewöhnlich trockenen und heißen Frühjahrs 1988’. Dazu fällt mir noch einen Anekdote aus jenem Jahr ein, die die Wetterlage - nebenbei auch die politische - beleuchtet. Ich war damals als ‚Kriegsdienstverweigerer’, wie die ‚Zivis’ üblicherweise auf dem Land genannt wurden, für den Naturkundlichen Verein Egge-Weser e.V. tätig. Dabei besuchte ich in jenem Frühjahr und Sommer über hundert Landwirte im Kreis Höxter, um ihnen Fördermittel für den Schnitt von Flecht- und Schurhecken sowie Kopfweiden zu bewilligen. Neben herzlicher Gastfreundschaft, einigen getrunkenen und unzähligen ausgeschlagenen Gläschen Korn sind mir noch viele lebhafte Diskussionen mit den Bauern in guter Erinnerung. Ein etwas seltsamer Vertreter erzählte mir von einer Prophezeihung, die in diesem Jahr in Erfüllung gehen sollte. Durch die lange Trockenheit und Hitze würde das Getreide verdorren, und es gäbe in ganz Europa eine große Missernte. In der Folge würde eine Hungersnot ausbrechen und das Volk arge Not leiden. In das so geschwächte Deutschland würde dann ‚der Russe’ einfallen und das Land erobern. Nun, die Russen sind bekanntlich nicht einmarschiert, aber die außergewöhnliche Witterung hatte dafür einen umso erfreulicheren Gast mitgebracht, den Schwarzstirnwürger, der für mich immer noch das Highlight aus mittlerweile fast dreißig Jahren Vogelbeobachtung im Kreis Höxter ist.“

Die Beobachtung des Godelheimer Vogels wurde in der Folge vom Landes- und vom damaligen Bundesdeutschen Seltenheitenausschuss (BSA) anerkannt (BSA 1990). Wie selten Schwarzstirnwürger seitdem geworden sind, zeigt schon die Tatsache, dass im Archiv der Avifaunistischen Kommission der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft (NWO) keine weitere Meldung danach zu finden ist.

Das war nicht immer so. Im Landesteil Rheinland beschreibt Mildenberger (1984) die Schwarzstirnwürger als ehemalige Brutvögel im Mittelrheingebiet, nennt aber auch Bruten im Bergischen Land und aus der Umgebung von Aachen. Nach dem damaligen Verständnis des Begriffs ‚Rheinland’  befinden sich zahlreiche der bei ihm, aber auch in den Arbeiten von Dietrich Ristow (1966, 1977) verzeichneten Brutplätze im heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz. Ristow (1966) schätzte allein für die damaligen Kreise Mayen und Koblenz den Brutbestand 1951 auf etwa 30 Paare. Seit 1961 fand er in seinem Untersuchungsgebiet keine Bruten mehr. In Rheinland-Pfalz gilt der Schwarzstirnwürger seit 1974 als ausgestorben (Mildenberger 1984). In Niedersachsen ist 1948 als das Jahr der letzten Brut angegeben (Südbeck 1998).

Mildenberger führt von außerhalb des engeren Brutgebietes nach 1950 aus Nordrhein-Westfalen noch folgende Beobachtungen an:
-    Im „Frühjahr 1961“ nahe Swisttal-Ollheim (Rhein-Sieg-Kreis)
-    Ende August 1963 Wipperfürth (Oberbergischer Kreis).

In Westfalen sind Bruten von Schwarzstirnwürgern aus dem 19. Jahrhundert bekannt. Lehrer Heinrich Schacht, der Altmeister der lippischen Ornithologie, führt die Art zwar in den beiden Auflagen  seiner „Vogelwelt des Teutoburger Waldes“ (1877, 1907) nicht an. Peitzmeier (1969) zitiert aber zwei Brutnachweise aus dem damaligen Fürstentum Lippe aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die von Schacht an anderer Stelle veröffentlicht worden sind. In der 1931 erschienenen Neubearbeitung von Schachts „Vogelwelt“, die Karl Meier-Lemgo vorgenommen hat, findet sich der kurze Hinweis, dass 1885 bei Detmold ein Nest mit vollem Gelege gefunden worden sei. Außerdem sei davor in der Nähe von Papenhausen bei Lemgo eine Familie mit gerade ausgeflogenen Jungen beobachtet worden. Drei Nester der Art aus dem 19. Jahrhundert befanden sich noch zu Zeiten von Friedrich Goethe im Lippischen Landesmuseum in Detmold (Goethe 1948). Peitzmeier zitiert weitere Brutplätze aus der Zeit: Biesterfeld und Schieder (Lippe), Obereimer (Sauerland), Hilchenbach (Siegerland). Laske et al. (1991) führen die Angabe von Peperkorn von 1887 auf, dass der Schwarzstirnwürger bei Bielefeld „Brut- und Strichvogel“ gewesen sei.

An glaubhaften Einzelbeobachtungen ist bei Peitzmeier (1969) nur eine Angabe von Reichling aufgeführt, dass im Herbst 1913 bei Münster „ein altes Weibchen“ gefangen worden sei. Im „Anhang“ zur „Avifauna von Westfalen“ (Gries et al. 1979) findet sich die Angabe, dass am 28.5.1966 bei Eggeringhausen, Kreis Lippstadt einer beobachtet worden sei.
Die Beobachtung eines Schwarzstirnwürgers am 10.7.1976 in der Bastau-Niederung bei Südhemmern (Kreis Minden) durch Gert Ziegler ist vom damaligen Raritäten-Ausschuss der Westfälischen Ornithologen-Gesellschaft anerkannt worden. Die wenigen weiteren Angaben in der älteren Literatur sind heute mit gewissen Zweifeln behaftet, da es durchaus möglich ist, dass die Art mit Raubwürgern verwechselt wurde (Frede & Langbehn 1989).

Auf die wenigen Schwarzstirnwürger stürzten sich im 19. Jahrhundert neben den Vogelschießern vor allem auch die Eiersammler. Aus Niedersachsen gibt es allein aus dem Raum Oldhorst im Weser-Aller-Flachland 8 Gelege, die nur zwischen 1879 und 1881 aus den Nestern geraubt worden sind (Südbeck 1998). Bis auf eines befinden sich alle in der riesigen Eiersammlung von Wilhelm Pralle (1810-1881), die im Roemer-Museum in Hildesheim aufbewahrt wird. In Nordrhein-Westfalen wird die Situation wahrscheinlich nicht anders gewesen sein.

In der neuesten Roten Liste von Nordrhein-Westfalen (Sudmann et al. 2008) ist der Schwarzstirnwürger folglich in der Kategorie „0 = Ausgestorben“ verzeichnet.

21 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Hoffentlich dauert es nicht mehr allzu lange, bis der nächste Schwarzstirnwürger irgendwo zwischen Rhein und Weser beobachtet wird.


Literatur:

Bundesdeutscher Seltenheitenausschuss (1990): Seltene Vogelarten in der Bundesrepunblik Deutschland 1987 und 1988. Limicola 4: 183-212.

Frede, M. & H. Langbehn (1989): Rätselvogel 12 – Schwarzstirnwürger. Limicola 3: 216-217.

Goethe, F. (1948): Vogelwelt und Vogelleben im Teutoburgerwald-Gebiet. Detmold.

Gries, B. et al. (1979): Anhang zu Avifauna von Westfalen. Abhandlungen aus dem Landesmuseum für Naturkunde zu Münster Westfalen 41, Heft 3/4, 477-576.

Laske, V., K. Nottmeyer-Linden & K. Conrads (1991): Die Vögel Bielefelds. Bielefeld.

Mildenberger, H. (1984): Die Vögel des Rheinlandes, Band 2. Düsseldorf.

Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Münster.

Ristow, D. (1966): Die Abnahme des Schwarzstirnwürger-Bestandes (Lanius minor) in der Eifel. Charadrius 2, Heft 2/3: 4-12.

Ristow, D. (1977): Ein Nachtrag zum Schwarzstirnwürger (Lanius minor) und Rotkopfwürger (Lanius senator) in der Eifel. Charadrius 13: 59-62.

Schacht, H. (1877): Die Vogelwelt des Teutoburger Waldes. Detmold.

Schacht, H. (1907): Die Vogelwelt des Teutoburger Waldes. Lemgo.

Schacht, H. (1931): Die Vogelwelt des Teutoburger Waldes (Bearbeitung von Karl Meier-Lemgo). Detmold.

Sudmann, S. R. et al. (2008): Rote Liste der gefährdeten Brutvogelarten Nordrhein-Westfalens. www.nw-ornithologen.de.

Südbeck, P. (1998): Schwarzstirnwürger Lanius minor Gmelin 1788. in: H. Zang & H. Heckenroth (Hg.): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen, Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen Sonderreihe B 2.10: 133-136.



Anschriften der Verfasser:

Jochen Müller, Parkgasse 4, 76571 Gaggenau-Sulzbach
Eckhard Möller, Stiftskamp 57, 32049 Herford