Avifaunistische Kommission
der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft
(NWO)



Vogel des Monats
Dezember 2006

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Sie kommen aus dem Osten: STEPPENFLUGHÜHNER



Von Eckhard Möller


Wir schreiben das Jahr 2056.

In Coesfeld sitzt Maximilian Ole Großeschulte (25) an den Recherchen für seine Dissertation. Er hat sich zum Ziel gesetzt, die Arbeit zu schreiben, von der sein Großvater Jan Ole Großeschulte 50 Jahre zuvor immer geträumt hatte, nämlich ein umfassendes Werk über „Die Vögel des Münsterlandes in Zeit und Raum“. J. O. Großeschulte hatte damals schon umfangreiches Datenmaterial gesammelt; zum Zusammenschreiben war er aber nie gekommen, weil er sich zu Beginn des Jahrtausends in der Phylogenie der Säugetiere verlaufen und die Vögel aus dem Blick verloren hatte.

Gewissenhaft, wie er erzogen ist, nimmt sich Maximilian Großeschulte natürlich auch die naturkundlichen Museen des Landes und ihre Sammlungen vor. Im Museum Alexander Koenig in Bonn findet er unter den Zehntausenden von Bälgen bereits etliche, die aus Westfalen stammen und nie für die Landesfauna berücksichtigt worden sind. Seine zweite große Suchaktion beginnt im Landesmuseum für Naturkunde in Münster, in dessen umfangreicher Vogelsammlung viele Belegstücke von für Westfalen seltenen Arten aufbewahrt sind, die allermeisten in einem sehr guten Zustand. Fast alle alten Präparate solcher Arten sind bereits in dem von dem Geistlichen Josef Peitzmeier 1969 herausgegebenen, sehr sorgfältigen Standardwerk „Avifauna von Westfalen“ aufgeführt.
Dann stößt Großeschulte in den übervollen Regalen der Sammlung auf Flughühner, genauer gesagt Steppenflughühner (Syrrhaptes paradoxus). Er wundert sich gleich, dass Präparate aus dem 19. Jahrhundert (aus der Zeit der Flughühner-Invasionen) noch so relativ frisch und jung aussehen können. Doch er glaubt seinen Augen kaum, als er am Fuß eines dieser Hühner das korrekt angebrachte kleine Schild mit der Aufschrift „Biologische Station Zwillbrock 16.5.83“ findet (Foto 1). Denn davon hatte ihm sein Großvater nie etwas erzählt, auch in dessen Unterlagen als alter Zeit war nichts darüber zu finden: Steppenflughühner im Münsterland in den 1980er Jahren !! Es müssen die 1980er Jahres gewesen sein, denn in den 1880ern gab es noch keine Biologische Station…

Foto 1

Wahrscheinlich waren sie damals dort bei Zwillbrock nahe der holländischen Grenze sterbend (oder vielleicht geschossen?) gefunden und dann in das Landesmuseum in Münster gebracht worden, wohin auch sonst. Und keiner der namhaften Ornithologen der Zeit hat etwas davon erfahren, wohl auch sein Großvater nicht, sonst hätte er diesen aufregenden Fund sicher publiziert. Maximilian Großeschulte war sehr stolz und glücklich, dass er diesen für das ganze Land vielleicht einzigen Nachweis von Steppenflughühnern aus dem 20. Jahrhundert gefunden hatte – und das in einer berühmten und von vielen Vogelkundlern im Laufe der Zeit immer wieder besuchten Landessammlung.

Doch Scherz beiseite – so könnte es tatsächlich kommen.
In der Vogelsammlung in Münster steht tatsächlich ein Steppenflughuhn „aus Zwillbrock“. Axel Müller von der Avifaunistischen Kommission der NWO hat sie dort vor nicht allzu langer Zeit bei Recherchen entdeckt. Da in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder einzelne Steppenflughühner in Westeuropa aufgetaucht sind, klingelte es bei ihm: Sollte da zu Anfang der 1980er Jahre ein kleiner Einflug nach Westfalen stattgefunden haben, der an den Vogelguckern völlig vorbeigegangen wäre? Im Museum konnte ihm niemand dazu Auskünfte geben.

Als er mir davon am Telefon erzählte, versprach ich, mich darum zu kümmern. Mein erster Ansprechpartner war Friedrich Pfeifer, aktiver Naturforscher und Ornithologe in Ahaus, der den Zwillbrocker Raum seit Jahrzehnten kennt. Er hatte noch nichts von den Flughühnern gehört, wollte sich aber dahinterklemmen. Und er wurde in kurzer Zeit fündig: Hermann-Josef Kottmann, der in den 1980er Jahren an der Biologischen Station Zwillbrock tätig war und heute Leiter der Station in Recklinghausen ist, konnte sich spontan an die Vögel erinnern. Er erzählte eine interessante und verrückte Story:

In den 1970er Jahren gab es in Oeding bei Südlohn eine sogenannte Wildverwertungsfirma, die für Spezialitäten-Restaurants internationales Wildbret beschaffte, so auch die Steppenflughühner. Sie sollen laut einem Zettel, der damals bei ihnen lag und der verlorengegangen ist, tiefgefroren aus Ungarn importiert worden sein. Es waren also keinesfalls Vögel, die auf eigenen Flügeln das westliche Münsterland erreicht hatten. Einige davon ließen sich damals wohl nicht mehr vermarkten und wurden dann an die Biologische Station Zwillbrock abgegeben. Sie waren aber in keinem guten Zustand, so dass die Station darauf verzichtete, die 6 oder 7 Exemplare, die noch vorhanden waren, für die eigene Sammlung ausstopfen zu lassen. Sie wurden stattdessen an das Landesmuseum für Naturkunde in Münster vermittelt, wo zumindest eins dann fachgerecht präpariert worden ist. An seinen Füßen wurde aber nur das Schild „Biologische Station Zwillbrock 16.5.83“ befestigt. Seitdem wird es in der Sammlung dort aufbewahrt.

In wenigen Jahrzehnten, wenn das in den Köpfen weniger Menschen gespeicherte Wissen um die Herkunft des Vogels nicht mehr vorhanden gewesen wäre, hätten dieses Schild mit den missverständlichen Angaben für erhebliche Verwirrung und sicher auch falsche Rückschlüsse gesorgt. Die Steppenflughühner sollten von sogenannten Feinschmeckern aufgegessen werden! Sie sind keinesfalls Belege für einen kleinen Einflug nach Westfalen zu Beginn der 1980er Jahre.

So völlig abwegig ist es aber nicht, dass Steppenflughühner auch heute noch von ihren mittelasiatischen Brutgebieten Westeuropa erreichen. Noch 1964 und 1969 erreichten einzelne Vögel die Niederlande. Bei VAN DEN BERG &BOSMANN (1999) ist ein eindrucksvolles altes Schwarzweißfoto vom 24. Dezember 1964 zu sehen, das ein gerade abfliegendes Steppenflughuhn bei Noordwijkerhout, Zuid-Holland, zeigt. Das British Birds Rarities Commitee führt auf seiner Website allein 7 Nachweise aus Großbritannien aus dem Zeitraum 1958 bis 2004 auf, davon 1 in 1964, 3 in 1969, 2 in 1975 und 1 in 1990 auf den Shetland-Inseln.

Die beiden großen Einflüge im 19. Jahrhundert nach Mitteleuropa sind in der NRW-Literatur dokumentiert. Als erster Nachweis für Westfalen gilt ein Steppenflughuhn, das 1863 nahe Mesum im Kreis Steinfurt wohl gegen einen Leitungsdraht geflogen war (Rehage in PEITZMEIER 1969). Von dem zweiten Einflug 1888/1889 sind mehrere Nachweise in der „Avifauna von Westfalen“ aufgeführt (Fotos 2 und 3). Dort nicht erwähnt ist aber ein Nachweis von 12 Flughühnern, die der „Waldschütz“ Römer und der Forstaufseher Hankensmeier „am Himmelfahrtstage 1888“ zwischen Langenholzhausen und Möllenbeck (im heutigen Kalletal, Kreis Lippe) gesehen haben (RÖHR o.J.). In den „Vögeln  Niedersachsen und des Landes Bremens“ zeigt Zang (in ZANG & HECKENROTH 1986) auch einen Nachweis (oder mehrere Nachweise?) im Bereich des Messtischblattquadranten TK 3816/4, von dem der allergrößte Teil in Westfalen liegt. Worauf diese Angabe gründet, ist uns bisher nicht bekannt.

(Fotos 2 und 3)

MILDENBERGER (1982) führt Angaben von den Invasionen 1863 und 1888 an, aber auch einen hochinteressanten Nachweis vom 9.11.1937, als in Düsseldorf-Himmelgeist wohl ein junges weibliches Steppenflughuhn aus einer „kleinen Schar“ von einem Sperber geschlagen
wurde. Der Vogel wurde aber nicht gefressen, sondern konnte präpariert werden und kam in das Naturkundliche Heimatmuseum Düsseldorf-Benrath. Wir sind sehr daran interessiert zu erfahren, ob dieses Präparat heute noch existiert.

Warten wir es ab, ob in den kommenden Jahren mal eins der heute sehr schnellen Informationssysteme wie birdcall.de oder GermanBirdNet oder NWOrni die Beobachtung oder den Fund  von Steppenflughühnern in Nordrhein-Westfalen melden wird. Es wäre eine Nachricht, die alle Vogelbeobachter mächtig elektrisieren würde…

Ich danke Heinz-Otto Rehage und Dr. Heiner Terlutter vom Westfälischen Museum für Naturkunde sowie Friedrich Pfeifer (Ahaus) für die freundliche Unterstützung.

LITERATUR

Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes Band 1. Düsseldorf.

Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Abh. Landesmus. Naturkunde Münster 31, Heft 3, S. 1-480.

Röhr, H. (o.J.): Die Entwicklung des Wildbestandes der letzten 100 Jahre im Raum Langenholzhausen. Examensarbeit PH Bielefeld (ca. 1965).

Van den Berg, A. & C. Bosman (1999): Rare birds of the Netherlands. Utrecht.

www.bbrc.org.uk/sandgrousetoswallows.htm

Zang, H. & H. Heckenroth (Hg.) (1986): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen. Naturschutz u. Landschaftspfl. Niedersachsen Sonderreihe B Heft 2.7, S. 1-185.

Anschrift des Verfassers:
Eckhard Möller, Stiftskamp 57, 32049 Herford